GedichtGedichte

Das Gedicht „Herbst“ stammt aus der Feder von Rainer Maria Rilke.

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Analyse

Das Gedicht "Herbst" (1902; Epoche des Symbolismus) besteht aus 4 Strophen. Die erste hat 3 Verse, die folgenden jeweils 2 Verse.
Metrum: Es finden sich sowohl männliche als auch weibliche Kadenzen und die Reime sind vereinzelt strophenübergreifend. Zudem fällt das Satzende nicht immer mit dem Versende zusammen (Hakenstil). Das Vermaß besteht überwiegend aus 5-hebigen Jamben.

Inhalt / Zusammenfassung

Das Gedicht thematisiert den Herbst als Jahreszeit, in der die Bäume ihre Blätter verlieren. Dieser Übergang wird metaphorisch auf das "älter werden" / "sterben" des Menschen umgedeutet, und zum Schluss folgt der Hinweis auf Gott.

Hintergrund

Der Herbst ist eine der vier Jahreszeiten. In den gemäßigten Klimazonen verlieren die meisten Laubbäume und auch andere Pflanzen ihre Blätter.
Im Allgemeinen wird es im Herbst deutlich kälter als im Sommer. Dennoch können auch im Herbst Wärmeperioden auftreten, die dann als Altweibersommer bezeichnet werden.

Das Wort Herbst hat etymologisch denselben Ursprung wie das englische Wort "harvest" („Ernte(zeit)“). Beide gehen über das urgermanisch "*harbistaz" auf eine gemeinsame urindogermanische Wurzel "*kerp-" („pflücken, ernten“) zurück, die sich auch im lateinischen Begriff "carpere" („pflücken“; siehe auch das Gedicht Carpe diem von Opitz) wiederfindet.


Brief an Clara Rilke

[…] Gleich am Morgen hatte ich von Deinem Herbst gelesen, und all die Farben, die Du in den Brief hinein gebracht hattest, verwandelten sich in meinem Gefühl zurück und erfüllten mein Bewusstsein bis an den Rand mit Stärke und Strahlung. Während ich hier gestern den aufgelösten lichten Herbst bewunderte, gingst Du durch jenen andern heimatlichen, der auf rotem Holz gemalt ist, so wie dieser hier auf Seide.

Und das eine reicht an uns heran und das andere; so tief auf den Grund aller Verwandlung sind wir gestellt, wir Wandelbarsten, die mit einer Neigung, alles zu begreifen, herumgehen und die (indem wir es doch nicht fassen) das Übergroße zur Handlung unseres Herzens machen, damit es uns nicht zerstöre.
Wenn ich hinaufkäme zu Euch, so würde ich gewiss auch den Prunk von Moor und Heide, das schwebend helle Grün der Wiesenstücke und die Birken neu und anders sehen; zwar hat diese Verwandlung, da ich sie einmal ganz erlebte und teilte, einen Teil des Stunden-Buchs hervorgerufen; aber damals war mir die Natur noch ein allgemeiner Anlass, eine Evokation, ein Instrument, in dessen Saiten sich meine Hände wiederfanden; ich saß noch nicht vor ihr; ich ließ mich hinreißen von der Seele, welche von mir ausging; sie kam über mich mit ihrer Weite, mit ihrem großen übertriebenen Dasein, wie das Prophezeien über Saul kam; genau so.

Ich schritt einher und sah, sah nicht die Natur, sondern die Geschichte, die sie mir eingab. Wie wenig hätte ich damals vor Cézanne, vor Van Gogh zu lernen gewusst. Daran, wie viel Cézanne mir jetzt zu tun gibt, merk ich, wie sehr ich anders geworden bin. Ich bin auf dem Wege, ein Arbeiter zu werden, auf einem weiten Wege vielleicht und wahrscheinlich erst bei dem ersten Meilenstein; aber trotzdem, ich kann schon den Alten begreifen, der irgendwo weit vorne gegangen ist, allein, nur mit Kindern hinter sich, die Steine werfen (wie ich es einmal in dem Fragment von den Einsamen beschrieben habe).

Ich war heute wieder bei seinen Bildern; es ist merkwürdig, was für eine Umgebung sie bilden. Ohne ein einzelnes zu betrachten, mitten zwischen den beiden Sälen stehend, fühlt man ihre Gegenwart sich zusammentun zu einer kolossalen Wirklichkeit.
Als ob diese Farben einem die Unentschlossenheit abnehmen ein für allemal. Das gute Gewissen dieser Rots, dieser Blaus, ihre einfache Wahrhaftigkeit erzieht einen; und stellt man sich so bereit als möglich unter sie, so ist es, als täten sie etwas für einen. […]

Paris VIe, 29, rue Cassette, am 13. Oktober 1907 (Sonntag)


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Vor der Natur gibt es kein Urteil; sie hat immer recht.

Alle Dinge sind dazu da, damit sie uns Bilder werden in irgendeinem Sinne.

Herbst-Abend

Wind aus dem Mond,
plötzlich ergriffene Bäume
und ein tastend fallendes Blatt.
Durch die Zwischenräume
der schwachen Laternen
drängt die schwarze Landschaft der Fernen
in die unentschlossene Stadt.


Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir, wie der Winter, der eben geht.

Alle, die in Schönheit gehn, werden in Schönheit auferstehn.