GedichtGedichte

Das Gedicht „Literarische Liebenswürdigkeiten“ stammt aus der Feder von Arno Holz.

1. Ballade

Kennt ihr das Lied, das alte Lied
Vom heilgen Hain zu Singapur?
Dort sitzt ein alter Eremit
Und kaut an seiner Nabelschnur.

Er kaut tagaus, er kaut tagein
Und nährt sich kärglich nur und knapp,
Denn ach, er ist ein grosses Schwein
Und nie fault ihm sein Luder ab!

Rings um ihn wie das liebe Vieh
Wälzt sich zerknirscht ganz Singapur
Und "Gott erhalte", singen sie,
"Noch lange seine Nabelschnur!"

Denn also geht im Volk die Mähr
Und also lehrt auch dies Gedicht:
Wenn jene Nabelschnur nicht wär,
Dann wär auch manches Andre nicht.

Dann hätte beispielsweise Lingg
Nie völkerwandernd sich verrannt
Und Wagners Nibelungenring
Wär stellweis nicht so hirnverbrannt.

Uns hätte nie Professor Dahn
Urdeutsch dozirt von A bis Z
Und kein ägyptischer Roman
Verzierte unser Bücherbrett.

Wolffs Heijerleispoeterei,
Kein Baumbach wär ihr nachgetatscht,
Und Mirzas Reimklangklingelei
Summa cum laude ausgeklatscht.

Dann schlüge endlich unsrer Zeit
Das Herz ans Herz der Poesie,
Das Rütli schwüre seinen Eid
Und unser Tell wär das Genie.

So aber so - frei, fromm und frisch
Kaut weiter jener Nimmersatt;
Sein eigner Schmerbauch ist sein Tisch,
Sein -wisch ein Bananenblatt.

Und um ihn wie das liebe Vieh
Wälzt sich zerknirscht ganz Singapur
Und "Gott erhalte", singen sie,
"Noch lange seine Nabelschnur!"

2. Stoßseufzer!

Heut misst man die Bücher mit Ellen
Ein wahrer Papier-Ocean!
Tagtäglich drei neue Novellen,
Tagtäglich ein neuer Roman!

In süsslicher Selbstpanegyrik
Entwässert in jedes Journal
Die unvermeidliche Lyrik
Ihre Tränenkübelmoral.

Die Welt ist nimmer die alte,
Sie stinkt wie ein Limburger Käs
Und bringt in jeder Spalte
Sechs Tohuwabohuessays.

Der Zeitgeist diktirt seinem Kater
Eine gallige Selbstparodie
Und krank liegt das deutsche Theater
An chronischer Selbstmordmanie.

Die Kunst war einst unwiderstehlich,
Wie die Loreley hoch über dem Rhein,
Doch heute denkt jeder: O selig,
Ein Wiederkäuer zu sein!

Dort liegen Herrn Hartmanns Schriften,
Weiss Teufel, der Kerl hat Recht -
Ich möchte die Welt vergiften
Mit meinem Stiefelknecht!

3. Anathema sit!

Viele Wörter sind auf is
Masculini generis,
Viele stehn im Daniel Sanders,
Viele stehn auch noch wo anders,
Doch verhasst vor allen sind
Diese mir, mein liebes Kind:
Weihrauchfässer und Kruzifixe,
Tinte, Schwefel und Stiefelwichse,
Englische Peers und russische Knuten,
Türkische Paschahs und deutsche Rekruten,
Throne, Kasernen und Schweinekofen,
Parvenüs und Naturphilosophen,
Enten, Seeschlangen, Juden und Zwiebeln,
Alte Jungfern und enge Stiebeln,
Weisse Handschuh und schwarze Fräcke,
Krinolinen und Chapeau cläque,
Schnupftabaksdosen und Mädchen für Alles
Und - last not least- ein unsterblicher Dalles!
Sympathisch zwar und angenehm
Ist meiner Treu mir keins von dem;
Doch bei vernünftiger Beschauung
Stört mich auch keins in der Verdauung.
So leb ich lustig comme il faut
Wie jener Mops im Paletot.
Nur Eins macht stets mich tapfer weichen
Und lässt mich kreideweiss erbleichen ….
O Gott, mir wird das Herz so schwer:
Nachbarin, euer Fläschchen her!
Das Wort bleibt mir im Halse stecken,
So oft ich auch daran gedacht -
Das ist der schrecklichste der Schrecken:
Ein Schöngeist, der in Versen macht!

4. Einem Glacédemokraten

Komm, Freund, dass ich die Hand dir fasse,
Du bist wie ich ein jeune garcon
Und führst das Elend aus der Gasse
Durch deine Lieder in den Salon.
Du hüllst sie in Gold und Purpur ein,
Nun wird die Armut unsterblich sein.

Ich weiss, du liebst es hoch zu Rosse
Zu schütteln den Speer deiner Poesie,
Drum duftet sie auch nie nach der Gosse
Und stinkt beträchtlich nach Patchouli.
Famos! schon wird vor Bewundrung stumm
Das höhere Töchterpublikum.

Vergnüglich hockst du hinterm Ofen,
Des Fortschritts Ziel hast du entdeckt
Und so zu sagen mit deinen Strophen
Den weissen Mohren schwarz geleckt.
Kein Lied, das die rote Rache preist,
Kein Aufschrei, der uns das Herz zerreisst!

Ich würde dir gern ein Krönchen kleistern,
Du weist, ich bin kein Nihilist;
Doch kann ich mich nicht recht begeistern;
Dieweil es mir mitunter ist:
Als lachte durch jedes Hungergedicht
Dein wohlgenährtes Prostmahlzeitsgesicht!

5. Tagtäglich

Tagtäglich wispert die Kritik:
"O wirf ihn fort den Hungerknochen!
Es hat die leidige Politik
Schon Manchem hier den Hals gebrochen.

Auch meine Galle schwimmt in Groll,
Doch wozu ihn versificiren?
Die Welt ist heute prosatoll
Und wird ihn schwerlich honoriren.

Such lieber hohe Protection,
Dein Sozialismus ist uns schnuppe,
Denn schliesslich wärmst du nur, mein Sohn,
Die achtundvierzger Bettelsuppe.

Drum still, du Sturm im Wasserglas,
Und reime fortab nur auf "Triebe" -
Du säst wie Lucifer nur Hass,
Das Herz der Kunst heisst aber Liebe!"

Ich hör′ s und fluche: Sapprement!
Zwar lieblich locken die Moneten,
Doch fehlt mir leider das Talent
Zum schwarzweissroten Hofpoeten.

Ich pfeif auf euern Fahneneid,
Ich pfeif auf eure feigen Possen!
Ins schwarze Schuldbuch unsrer Zeit
Sind meine Verse rote Glossen!

Drum bitte, mir drei Schritt vom Leib
Mit euern Tombackpoesieen
Und zischt nicht wie ein feiles Weib:
Tritt ein in unsre Koterieen!

Thät ich′ s, ich wär ein Halb-Poet,
So aber ruf ich durch die Gassen:
Die Welt, die sich um Liebe dreht,
Weiss auch das Hungertuch zu hassen!

6. F. v. B.

Ein Quentchen Herz, ein Quentchen Hirn,
Die schlanke Nase kühn gekurvt
Und die gedankenhohle Stirn
Gedankenvoll "gefaltenwurft":
So seh ich ihn, verblichnen Airs,
Den alten, goldbebrillten Knaben -
O, F.v.B., das Beste wär′ s,
Du liessest endlich Dich begraben!

Begnadge Feder und Papier
Und ziehe endlich die Moral,
Du siehst, ich mein es gut mit Dir
Und bin wie immer radikal.
Was hast Du um die Zeit der Not
Auch heut in dieser Welt zu suchen?
Wir Dichter schrein nur noch nach Brot
Und nicht wie Du nach Kaffeekuchen!

Kein Mensch ist mehr zuleikatoll,
Dein Bülbülschwindel ist verkracht,
Und ein entsetzlich tiefer Groll
Ist jählings mit uns aufgewacht.
Drum gecke weiter, alter Geck,
Und schwärme vom Medschidscheorden,
Wir - schreiten über Dich hinweg,
Denn anders ist die Welt geworden!

Sie schwelgt nicht mehr "an Baches Strand"
Und sucht verzückt das Blümlein "Blau",
Sie hat sich endlich selbst erkannt
Und plant den grossen Zukunftsbau.
Zum Factum macht sie die Idee
Und lacht der Schwärmer hinterm Ofen -
Was sollen ihr nun, F.v.B.,
Was sollen ihr nun Deine Strophen?

Ein Musterstück für Versdressur,
Ein farblos Nichts, das bunt lackirt,
Vergleichbar einer Kinderuhr,
Die "fingerdick mit Gold beschmiert" -
So ungefähr als Mann von Fach
Würd ich den Mischmasch kritisiren;
Doch nein, auch das ist noch zu schwach,
Dein Witz ist ledern zum Crepiren!

Drum noch einmal: Streu Sand aufs Blatt
Und schreibe endlich Punktum drauf!
Wir sind den alten Krimskrams satt
Und atmen täglich freier auf.
Wir wünschen Dir, weil Du ergraut,
Auch schliesslich noch ein langes Leben;
Nur darfst Du nie, was Du verdaut,
In Versen wieder von Dir geben!

Denn traurig ist′ s mit anzuschaun,
Wenn ein zerbrochner Hampelmann
Noch immer tun will wie ein Faun
Und doch nicht kann, o Gott, nicht kann!
Dann zuckt′ s mir durch das Herz: Er weint!
Gespenstisch däucht mir seine Glatze,
Und wenn die Sonne drüber scheint,
Verklärt sie golden - eine Fratze!

7. Wie es kam

Sie sassen in Walhall und tranken,
Die Kukukuhr schlug Eins,
Patagonier, Inder und Franken,
Konfuzius, Kant und Prinz Heinz.

Sie sassen und tranken und Plato
-Der Windhund sass neben Silen! -
Silentium, rief er, bis Dato
Geht nichts mir über Athen!

Athen mit seiner Athene
Und Phidias, dem griechischen Kiss,
Athen und notabene
Seine Akropolis!

Virgil zerschlug seinen Humpen
Und brüllte: Rom, Hund, Rom!
Auch sein Nebenmann liess sich nicht lumpen:
O Stadt am Gangastrom!

Teut Michel pries keusch Buxtehude
Und machte dazu: Hem Hem!
Und Salomo, der Jude,
Plädirte: Jerusalem!

Napoli vedi e mori!
Ein Kerl im Frack hat′ s geschnalzt,
Bis meuchlings ein frecher Mahori
Ihm gründlich die Suppe versalzt.

Da erhub sich vom goldenen Stuhle,
Das Trinkhorn in der Hand,
Der alte König von Thule
Und küsste sein Burschenband.

Es blitzte sein Schläger im Weine,
Es klang so voll, so weich:
Alt Heidelberg, du Feine,
Du Stadt an Ehren reich!

Alt Heidelberg, du Feine -
Wie das ins Herz ihm schnitt!
Er sang es nicht mehr alleine,
Zehntausend sangen es mit!

Es sang es der ganze Chorus,
Childe Harold brummte: All right!
Und selbst der König Porus
Rief: Wetter, das Ding hat Schneid!

Derweilen, draussen vorm Thore,
Stand lauschend ein deutscher Scholar,
Der eben seiner Lore
Lachend entlaufen war.

Der hatte kein Wörtlein verloren,
Der fing einen Sonnenstrahl
Und gab ihm verträumt die Sporen
Und ritt ins Neckarthal.

Und heute, im Abendscheine,
Jeder Vogel singt es vom Blatt:
Alt Heidelberg, du Feine,
Alt Heidelberg, du Stadt!

8. So ist′ s!

Auf diesem schönsten der Planeten
Erheben furchtbar ihr Geschrei
Die theegepäppelten Poeten
Der Höhern-Töchterclerisei:

"Schon wieder Einer, der revoltert,
Schon wieder Einer, der nur schreit:
Der Menschheit Herz habt ihr gefoltert,
Ich bin der Geist der neuen Zeit!

Was will der Lump? Was? Räsonniren?
Der Kerl, scheint′ s, hat den grossen Floh!
So jung noch und schon kritisiren!
O tempora! sagt Cicero.

Hm! Jedenfalls sitzt er im Dalles,
Doch, Teufel ja, wie dem auch sei!
Wir dulden alles, alles, alles,
Nur nicht Tendenzenreiterei!

Die Poesie ist keine Pfütze,
Sie brennt nicht wie ein Lampendocht,
Und nichts gilt uns ein Kopf voll Grütze,
Wenn sie das Herz nicht weich gekocht!"

Schon gut! So hört doch auf mit Schelten
Und schlagt mir nicht die Fenster ein!
Gewiss, ihr Herrn, ich lass es gelten:
Der Mensch lebt nicht von Brot allein!

Die Lerchen jubeln noch und klettern
An ihren Liedern in die Luft
Und dunkle Hochgewitter wettern
Noch nächtlich über Wald und Kluft.

Noch immer blüht im Lenz der Flieder,
Im Sommer duftet der Jasmin,
Die Nachtigall singt ihre Lieder
Und jeder Ton ein Blutrubin.

Und macht der Herbst dann seine Runde,
Umkreist das Adlerweib den Horst,
Dann wandert um die Mittagsstunde
Die Sonne golden durch den Forst.

Dann lieg ich träumerisch im Grase
Und freu mich, dass die Erde rund,
Und oft versetzt mich in Extase
Ein heisser, roter Frauenmund.

Und doch - o heilige Hippokrene! -
Wenn ihr das Ding so süss bereimt,
In Goldschnitt "gb." notabene
Und rot mit Callico beleimt:

Fällt mir der Nürnberger Trichter
Und Geibels schöner Wahrspruch ein:
Man kann ein guter lyrischer Dichter
Und doch ein dummer Teufel sein!

9. Die deutschen Denker an die deutschen Dichter

Wohl reiht ihr Reim an Reime
Und fügt zum Wort das Wort,
Doch eurer Saaten Keime
Uns dünken sie verdorrt -
Verdorrt, noch eh die Sichel
Der Zeit sie jäh durchkracht
Und so dem deutschen Michel
Die Arbeit leichter macht.

Denn ach, euch ging verloren
Der Dinge Gang und Grund,
Ihr hört mit tauben Ohren
Und sprecht mit stummem Mund.
Doch wehe eurer Scheitel
Am Tage des Gerichts,
Denn was ihr singt ist eitel,
Und was ihr sagt ist nichts!

Und doch, ging je vor Zeiten
Der Sänger mit dem Sieg,
Dann gilt es heut zu streiten
In einem heilgen Krieg.
Denn nicht um Hof und Herde
Schlägt unser Herz und schwillt:
Heut ist′ s die ganze Erde,
Der unser Sterben gilt!

Seit Urbeginn schon gährte
Es tief im Schoß der Zeit
Und jede Stunde nährte
Den grausen Widerstreit.
Doch heute erst entrauchte
Die Lohe ihrem Schacht
Und blutig überhauchte
Sie das Gewölk der Nacht.

Und weh, das Glück zerschellte,
Was ganz war, brach entzwei,
Und durch die Lande gellte
Ein einzig lauter Schrei.
Mit Mehltau übernetzte
Das Feld sich weit und breit
Und es begann der letzte,
Der Bürgerkrieg der Zeit.

Nun rast er durch die Auen
Und spielt sein wildes Spiel
Und uns durchrinnt ein Grauen,
Bedenken wir sein Ziel.
Die Tafel der Gesetze
Zerbarst wie sprödes Glas,
Die Tugend ward zur Metze,
Die Liebe ward zum Hass.

Die Wahrheit liegt im Staube,
Die Hoffnung sitzt und weint,
Gestorben ist der Glaube
Und ach, das Herz versteint!
Des Wahnsinns Schlangen zischen
Und Alp türmt sich auf Alp
Und wüst erschallt dazwischen
Der Tanz ums goldne Kalb.

Doch nahn schon Gottes Boten
Und ihre Stimme spricht:
Lebendig sind die Toten
Und nahe das Gericht!
Der Erdball wankt und zittert,
Des Himmels Wolken drohn
Und durch die Lande wittert
Der Hauch des Todes schon.

Ihr aber, die zu Wächtern
Des Heiligtums bestellt,
Ihr habt euch den Verächtern
Des Himmels zugesellt;
Denn wenn der Donner rollte,
Verschlosst ihr euer Ohr,
Und wenn die Brandung grollte,
Wer war′ s, der sie beschwor?

Ihr stammelt wie die Kinder,
Dass niemand euch versteht,
Und jeder Reimverbinder
Ist heute ein: Poet!
Sich selbst singt er im Liede
Und macht es sich bequem,
Als wäre der ewige Friede
Schon mehr als ein Problem!

Doch nun genug der Schande,
Auf, auf! und greift zur Wehr
Und wandert durch die Lande
Und rudert übers Meer!
Streift ab die blumigen Ketten
Und folgt uns in den Krieg,
Denn noch sind sie zu retten
Die Ehre und der Sieg!

Und dräut auch manche Wolke
Euch schwarz am Horizont,
O haltet treu zum Volke,
Ihr habt′ s noch nie gekonnt!
Nach ihm streckt seine Krallen
Siebenfach die Not;
Der schrecklichste von allen
Ist doch der Kampf ums Brot!

Zerknechtet und zerknetet,
Es kennt sich selber nicht;
Drum singt und wacht und betet:
Mehr Licht, o Gott, mehr Licht!
Und kehrt der Friede wieder
Dereinst nach Kampf und Streit,
Dann singt: Das Lied der Lieder,
Das ist das Lied der Zeit!

Anmerkung: Ein Panegyrikus (altgriechisch: panḗgyris „Versammlung [aller]“) war in der Antike eine prunkvolle Rede aus festlichem Anlass.

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