GedichtGedichte

Das Gedicht „Stufen“ stammt aus der Feder von Hermann Hesse.

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Analyse

Das Gedicht "Stufen" (1941; Epoche des Symbolismus) besteht aus 3 Strophen mit 10, 8 und 4 Versen. Das Versmaß ist ein jambischer Fünfheber mit weiblicher Kadenz. Durch die zahlreichen (auch harten) Enjambements und die klingenden Enden wirkt der Text eher wie ein epischer Text.
Dieser Effekt wird durch das ungewöhnliche Reimschema noch verstärkt: Die erste Strophe besitzt das Reimschema [abacbdcede]. Die Verse sind also so konstruiert, dass jeweils das Reimpaar des Anfangs- und des Schlussreims wie ein Kreuzreim wirkt, während die dazwischenliegenden Reimpaare einem umarmenden Reim ähneln. Die zweite Strophe besteht aus zwei Sätzen, wobei der eine aus einem umarmenden, der zweite aus einem Kreuzreim besteht. In der dritten Strophe findet sich ausschließlich ein umarmender Reim.

Inhalt

Jede Stufe des Lebens ist zeitlich begrenzt und blüht zu ihrer jeweiligen Zeit. Der Mensch soll sich also bei jedem Ruf des Lebens mit Tapfer- und Heiterkeit sowie ohne Trauer von seinem alten Lebensstadium verabschieden und einen Neubeginn wagen.
Er soll sich außerdem an keiner der Lebensstufen festhalten, da der „Weltgeist“ für ihn keine Einengung, sondern eine Ausweitung von Stufe zu Stufe vorsieht.
Hat man auf einer Stufe Heimat gefunden, so droht man in eine Erschlaffung und Lähmung zu geraten. Auch der Tod ist vielleicht auch nur der Abschied von einer Entwicklungsstufe.

Hintergrund

Hesse schrieb das Gedicht im Mai 1941 nach langer Krankheit; es trug ursprünglich den Titel „Transzendieren!“. In Stufen beschreibt er das Leben als fortwährenden Prozess, bei dem auf jeden „durchschrittenen“ Lebensabschnitt (Raum, Stufe) ein neuer Lebensabschnitt folgt. Es handelt sich um eines meiner 10 Lieblingsgedichte!

In Hesses Roman "Das Glasperlenspiel" (1943) wird das Gedicht im zweiten Teil wiedergegeben. Besondere Bedeutung erhält es für den ganzen Roman, indem es den entscheidenden Wandel im Leben des „Magister Ludi“ Josef Knecht meditativ begleitet. Dabei werden die Zeilen

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben

ausdrücklich zitiert und als maßgeblich für Knechts Abschied von seinem Amt dargestellt. Im darauf folgenden Gespräch zwischen Knecht und seinem Freund Tegularius bringt Hesse dann eine ausführliche Interpretation des Gedichts und thematisiert dabei auch die Änderung des ursprünglichen Titels "Transzendieren" in "Stufen".

 

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