GedichtGedichte

Das Gedicht „Trauerweide“ stammt aus der Feder von Gottfried Keller.

1

Es schneit und eist den ganzen Tag,
Der Frost erklirret scharf und blank,
Und wie ich mich gebärden mag -
Es liegt ein Mägdlein ernstlich krank.

Das Rosengärtlein ist verschneit,
Das blühte als ihr Angesicht.
Noch glimmt, wie aus der Ferne weit,
Der Augenmildes Sternenlicht.

Noch ziert den Mund ein blasses Rot
Und immer eines Kusses wert;
Sie läßts geschehen, weil die Not
Die Menschenkinder beten lehrt.

"Ich lieb auch deinen lieben Mund,
Lieb deine Seele nicht allein -
Im Frühling wollen wir gesund
Und beide wieder fröhlich sein!

Ich lieb auch deiner Füße Paar,
Wenn sie in Gras und Blumen gehn;
In einem Bächlein sommerklar
Möcht ich sie wieder baden sehn!

Auf dem besonnten Kieselgrund
Stehn sie wahrhaftig wie ein Turm,
Obgleich der Knöchel zartes Rund
Bedroht ein kleiner Wellensturm!"

Da scheint die Wintersonne bleich
Durchs Fenster in den stillen Raum,
Und auf dem Glase, Zweig an Zweig,
Erglänzt ein Trauerweidenbaum!

2

O Erde, du gedrängtes Meer
Unzähliger Gräberwogen,
Wie viele Schifflein kummerschwer
Hast du hinunter gezogen,
Hinab in die wellige, grünende Flut,
Die reglos starrt und doch nie ruht!

Ich sah einen Nachen von Tannenholz,
Sechs Bretter von Blumen umwunden,
Drin lag eine Schifferin bleich und stolz,
Sie ist versunken, verschwunden!
Die Leiche fuhr so tief hinein,
Und oben blieb der schwere Stein!

Ich wandle wie Christ auf den Wellen frei,
Als die zagenden Jünger ihn riefen;
Ich senke mein Herz wie des Lotsen Blei
Hinab in die schweigendenTiefen;
Ein schmales Gitter von feinem Gebein,
Das liegt dort unten und schließt es ein.

Die Trauerweide umhüllt mich dicht,
Rings fließt ihr Haar aufs Gelände,
Verstrickt mir die Füße mit Kettengewicht
Und bindet mir Arme und Hände:
Das ist jene Weide von Eis und Glas.
Hier steht sie und würgt mich im grünen Gras.

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