GedichtGedichte

Das Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ stammt aus der Feder von Novalis.

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurückbegeben,

wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit werden gatten
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die wahren Weltgeschichten,
dann fliegt von einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.

Analyse

Das Gedicht "Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren" (1800; Epoche der Romantik) besteht aus 1er Strophe mit 12 Versen. Das Metrum (Versmaß) ist ein jambischer Vierheber. Als Reimschema wird in je 2 aufeinander folgenden Versen ein Paarreim [aa bb cc …] verwendet. Bis auf die letzten beiden Verse, enden die Verse mit einer weibliche Kadenz. Das ganze Gedicht besteht aus einem einzigen konditionalen Satz.

Inhalt / Zusammenfassung

Zunächst kritisiert der Autor den Anspruch der Naturwissenschaften, die einzig Mögliche Erkenntnis der Welt zu liefern und die dabei verwendeten rational-quantitativen Methoden. Den "Tiefgelehrten" werden die sinnlich orientierten "Romantiker" gegenübergestellt, deren Zugang zum Verständnis der Welt (z.B. über Märchen und Gedichte & "dem geheimen Wort") echte "Klarheit" ermöglicht (siehe auch: Hörst du wie die Brunnen rauschen von Clemens Brentano).

In den letzten beiden Versen wird das Motiv des "geheimen Wortes" aufgegriffen - d.h. dem Wort des romantischen Dichters (vgl. Eichendorffs vierzeiliges Gedicht „Wünschelrute“). Das Motiv des geheimen, nur einem eingeweihten Kreis bekannten Wortes ist der Konzeption von Friedrich Hölderlin und den späteren Haltungen des Kreises um Stefan George verwandt (siehe: Wer je die Flamme umschritt).

Interpretation

So wie mit dem Begriff Interpretation während der Ausbildung umgegangen wird, ist er eine grundsolide, deutsche Erfindung, um nicht zu sagen: Halluzination. Zur Illustration einige Zitate aus dem Essay "Bescheidener Vorschlag zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie" (1977) von Hans Magnus Enzensberger:

"Der Leser hat in diesem Sinn immer recht, und es kann ihm niemand die Freiheit nehmen, von einem Text Gebrauch zu machen, der ihm paßt."

"Zu dieser Freiheit gehört es, hin- und herzublättern, ganze Passagen zu überspringen, Sätze gegen den Strich zu lesen, sie mißzuverstehen, sie umzumodeln, sie fortzuspinnen und auszuschmücken mit allen möglichen Assoziationen, Schlüsse aus dem Text zu ziehen, von denen der Text nichts weiß, sich über ihn zu ärgern, sich über ihn zu freuen, ihn zu vergessen, ihn zu plagiieren und das Buch, worin er steht, zu einem beliebigen Zeitpunkt in die Ecke zu werfen. Die Lektüre ist ein anarchischer Akt. Die Interpretation, besonders die einzige richtige, ist dazu da, diesen Akt zu vereiteln."

"Ihr Gestus ist demzufolge stets autoritär, und sie ruft entweder Unterwerfung oder Widerstand hervor. Wo dieser sich rührt, sieht sie sich gezwungen, auf ihre eigene theoretische oder institutionelle Autorität zu pochen. Sofern diese auf schwachen Füßen steht – ein Fall, der glücklicherweise immer häufiger wird -, versucht sie, das, was ihr fehlt, anderswo zu borgen. So erklärt sich der Regress auf den Autor, von dem man kaltblütig voraussetzt, daß er bereit ist, sich zum Komplizen der Interpretation zu machen und seine Leser zu verraten, indem er, sozusagen in letzter Instanz, erklärt, wie er es gemeint habe, wie es demzufolge zu verstehen sei, und damit basta".

"Die analoge Fertigkeit, die es erlaubt, aus einem Gedicht eine Keule zu machen, nennt man Interpretation."

Hintergrund

Im Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen" von Novalis (eigentlich Friedrich von Hardenberg) erschien dieses Gedicht, das als programmatisch für die Romantik gilt. Der Roman entstand im Laufe des Jahres 1800 und wurde erst 1802 postum von Friedrich Schlegel veröffentlicht. Novalis misstraut den „Tiefgelehrten“ (bzw. der Aufklärung) und findet den Schlüssel zum Verständnis der Welt bei den Sängern und den Liebenden.

Novalis, zu dessen Lieblingsideen das künftige Goldene Zeitalter gehörte, wünschte keine Rückkehr zu einem statischen Idealzustand im Sinne des antiken Mythos. Er erwartete neuartige Verhältnisse, die durch eine nicht endende Dynamik gekennzeichnet sein sollten: einer fortdauernden Annäherung an die Vollkommenheit in der künftigen goldenen Zeit.

Ein zentrales Merkmal des antiken und des künftigen "Goldenen Zeitalters" ist für Novalis die Einheit der Natur und die Einbettung des Menschen in diese Einheit. Im Prozess des Zueinanderfindens von Mensch und Natur weist er den Dichtern eine wichtige Rolle zu, da sie befähigt seien, das dabei Wesentliche zu erfühlen und zu artikulieren.

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