GedichtGedichte

Das Gedicht „Ein alter umgeweheter Kirschbaum“ stammt aus der Feder von Barthold Heinrich Brockes.

So muß dich denn zuletzt der wilde Nord zerspalten,
Da dein Verdienst, wodurch du dich erhalten,
Das Beil oft von dir abgekehrt,
Weil sonst dein Stand die Durchsicht mir verwehrt?
Ob ich nun gleich dadurch, bei deinem Scheiden,
Fast mehr gewonnen, als verloren;
So seh ich dich doch, mit betrübten Freuden,
In deinem Lager an.
Es hat dich dein Verdienst beschützet:
Dieß dein Verdienst begleitet dich
Zu der Zeit auch, da grimmiglich
Ein Wetter auf dich stürmt und blitzet.
Dein längst geborst'ner Stamm hat eh nicht brennen wollen,
Als bis du mir zu guter letzt
Das, was ich an dir hoch geschätzt,
Die großen Kirschen reif hast können zollen.

Die Kinder, die sich bis daher,
Mit aufgeschlag'nem Aug', an deiner Frucht ergötzet,
Betrüben sich; doch freuen sie sich mehr,
Indem sie ihren Wunsch, die reifen Kirschen nun,
Wodurch dein Haupt bisher sich pflag zu schmücken,
Itzund, wie sie mit Jauchzen tun,
In deinen Zweigen selber pflücken.
Sie können nunmehr, ohn' Gefahr,
Auf deinen ehedem erhab'nen Gipfel steigen.

Bald halb verdeckt, bald ganz und gar
Sieht man sie in den grünen Zweigen,
Mit kindischem Gewühl und frohem Lärmen,
Geschäftig schlupfen, hüpfen, schwärmen.
Kein einziger von ihnen denkt daran,
Wie es nun auch das letzte mal,
Daß er der süßen Kirschen Zahl
Von diesem Baume pflücken kann.
Sie wissen nicht, dass oft Verdruss,
Auch aus der Lust so gar, entspringet,
Und dass ein kurzer Überfluss
Oft einen langen Mangel bringet.

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